Level 3 auf dem Highway: Mit ausgewählten Mercedes-Benz-Fahrzeugen ist das in Kalifornien jetzt möglich.
Foto: Mercedes-Benz AG
Level 3 auf dem Highway: Mit ausgewählten Mercedes-Benz-Fahrzeugen ist das in Kalifornien jetzt möglich.

Hochautomatisiertes Fahren

Mercedes Drive Pilot ermöglicht Level 3

Der schwäbische Premiumhersteller hat in Kalifornien die Erlaubnis zum hochautomatisierten Fahren erhalten und darf dort nun sein Level-3-System einsetzen.

California dreaming. Es ist einer dieser fast schon zuckersüßen Baywatch-Spätsommertage hier in Santa Monica: Der Pazifik grüßt glitzernd die Surfer, Touristen sonnen sich in den Strandcafés, die Cabriodichte ist hoch. Doch das Kitschpostkarten-Setting verblasst schnell, wenn das Navi die Interstate 10 Richtung City vorschlägt. Der Verkehr wird dicht und dichter, die Septembersonne strahlt von ganz schräg vorn grell ins Gesicht. Die blendenden Aussichten lassen den Menschen hinter dem Steuer dennoch kalifornisch-gelassen: Der Mercedes kennt die Strecke ja – und die Hände bleiben gelassen im Schoß.

Da dürfen sie auch verweilen. Denn in der Limousine EQS ist die neueste Generation vom sogenannten Drive Pilot der Schwaben eingebaut; die hat nun auch von den Behörden im bevölkerungsreichsten Bundesstaat der USA die Zertifizierung für hochautomatisiertes Fahren nach dem Level 3 erhalten. Nur Mercedes hat bisher hier und in Nevada wie schon in Deutschland die Erlaubnis, ein solches System auf die Straße zu bringen. Zusätzlich kann der Benz in den USA auch noch freihändig überholen.

Mancher Tesla-Fahrer wird sich da verwundert die Augen reiben – und vollmundig betonen: „Ganze Strecken fahren ohne je die Hand ans Steuern zu nehmen, überholen, bremsen, beschleunigen – und währenddessen ein TikTok-Video aufnehmen und posten … das kann ich in meinem Model 3 doch auch längst schon.“ Im Prinzip ist das wie in vielen aktuellen Modellen mit kompletter Assistenten-Armada technisch auch so möglich. Nur erstens darf er oder sie das eben nicht, und zweitens trägt der Mensch hinterm Steuer stets das volle Haftungsrisiko, wenn was schiefläuft. Und dass was schieflaufen kann, belegt jede Zehnsekunden-Suche nach einschlägigen Youtube-Videos zur Genüge.

Im Mercedes ist das grundlegend anders – das belegt die Antwort auf eine ganz einfache Frage: „Wenn der Mensch das Steuer nicht mehr halten muss, sein Auto selbsttätig lenkt, bremst und beschleunigt, was darf er dann stattdessen tun? Die Antwort für Level 2 lautet: Fast nichts. Denn er muss stets die Augen auf der Straße haben. Die Antwort für Level 3: Wie wäre es mit Film streamen, Videokonferenz oder Spielen auf dem Touchscreen? Alles erlaubt – denn der Hersteller übernimmt die Verantwortung.

Film streamen, Gaming, Video-Konferenz – alles erlaubt

„Dafür haben wir viel Überzeugungsarbeit leisten müssen“, sagt Markus Schäfer, Chief Technology Officer der Mercedes-Benz AG. Denn die Behörden hätten zwar „Tausende Seiten technischer Beschreibungen“ interessiert zur Kenntnis genommen. Doch erst reale Fahrten über die oft holprigen Freeways im Sonnenstaat mit ihren verblassten Straßenmarkierungen, Baustellen, vorbei an breiten Trucks, schmalen Motorrädern und lauten Feuerwehren im Einsatz zeigen, dass die Sicherheits-Versprechen im Selbstfahrer auch gehalten werden. Selbst, wenn die Menschen im Auto anderweitig abgelenkt sind.

Praktisch funktioniert die Übergabe an den Computer-Piloten im Verkehrsgewusel von Los Angeles ganz einfach: Das Tempo wird im typisch stockenden Verkehr niedriger als 60 Stundenkilometer. Jetzt blinken links im Lenkrad zwei Tasten weiß. Ein Druck – und nach kurzem Flimmern leuchtet das Element türkis auf. Im zentralen Bildschirm prangt nun ein „A“ für autonom. Die Verantwortung für die sichere Fahrt liegt nun bis auf Weiteres bei Mercedes. Im wörtlichen Sinn: Denn im Fall eines Unfalls würde statt des Besitzers die Versicherung des Herstellers haften.

„Genau dazu soll es aber nicht kommen. Das ist unser Anspruch“, sagt Schäfer. Seine Entwickler haben den vollelektrischen EQS wie auch die S-Klasse dazu vollgestopft mit aller Sensorik und Kameratechnik, die gut und teuer ist: Links im Kofferraum ist eine Beule sichtbar, hinter der ein Zentralrechner steckt. Dort werden riesige Datenmengen verarbeitet, damit alle Passagiere ungestört Filme streamen können, chatten, News lesen oder einfach auf die Surfer in der Brandung schauen. Der Computer arbeitet derweil auf Hochtouren, um die Massen an Informationen zu verdauen und in Fahrbefehle umzusetzen.

Aufpreis in Deutschland: 5.882 Euro netto

Ein Lidar im Kühlergrill, die auf einen Zentimeter genaue GPS-Erfassung auf dem Dach, eine Stereokamera in der Frontscheibe, eine weitere im Heck nebst Mikrofonen, damit die Highway-Patrol unter Blaulicht und Sirene rechtzeitig erkannt wird; vier Kameras in den Spiegeln, sechs Radar- und doppelt so viele Ultraschallsensoren rundum, Nässesensoren im Radkasten … kein Wunder, warum der Drive-Pilot in Deutschland rund 5.882 Euro (alle Preise zzgl. USt.) Aufpreis kostet. In den USA übrigens sind es nur 2.108 – allerdings pro Jahr. Dort lässt sich das System nämlich per Knopfdruck in der Mercedes-App mieten. Ähnliche Abo-Modelle bieten ja auch Tesla oder BMW für solche Assistenten. Die Variante ist wohl auch ein Test dafür, was besser beim Kunden ankommt.

Denn noch ist die große Freiheit auf dem Freeway eingeschränkt. Das zeigt sich, als der Verkehr wieder flüssiger läuft und das Auto vor dem Mercedes beschleunigt: Jetzt fehlt dem Drive-Piloten die Orientierung – und er fordert mit gelbem Leuchten seinen menschlichen Copiloten zur Übernahme der Fahraufgaben auf. Das gerade begonnene Youtube-Katzenvideo wird zeitgleich abgewürgt. Schluss mit putzig, zurück ans Steuer. Auch bei Nieselregen, in Tunneln, Winterkälte oder bei Fußgängern am Fahrbahnrand verweigert der Drive-Pilot seine Arbeit. „Wir tasten uns aber an immer mehr Leistung heran – safety first“, erklärt Schaefer. Ende kommenden Jahres etwa soll schon Tempo 90 möglich sein, 130 gegen Ende des Jahrzehnts. Mehr Geschwindigkeit erlaubt ohnehin vorerst kein Gesetzgeber.

Und auch Mercedes gestattet nicht alles, was dem arbeitslosen Menschen so einfallen könnte. Hat der Drive-Pilot so seine Zweifel, ob der Mensch fit für die Fahraufgabe wäre, blinkt und piepst es zunächst einmal leidlich dezent, dann vehementer, schließlich ruckelt es am Gurt – und final bringt das System solche Fahrzeuge unter Warnblinken zum Stand. Schließlich könnte der Mensch im Auto ja in den Tiefschlaf gesunken sein oder gar einen Infarkt erlitten haben. Der Level-3-Mercedes stoppt mit einer solchen Eskalations-Kaskade das lässige Freihand-Sightseeing, wenn etwa ein Unfall voraus die Fahrspur verstopft oder der Fahrer schlicht eingeschlafen ist. In dem Fall reagiert nämlich die Innenraum-Infrarotkamera hinter einer schwarzen Blende im Cockpit.

Level-3-Mercedes stoppt mit Eskalations-Kaskade

Darum schlägt Drive-Pilot auch Alarm, als der Tester seinen Santa Monica-Prospekt ganz auf DIN A3 ausklappt, um die Informationen zum angesagten Beach-Restaurant zu studieren. Jetzt kann der Kollege Computer ihm nämlich nicht mehr in die Augen schauen – und fordert zur Übernahme des Steuers auf; aber zackig. Prospekt beiseitelegen … schon ist der Assistent wieder friedlich. Andernfalls wäre am Ende der Benz mit Warnblinker mitten auf der Fahrbahn gestoppt, hätte das Notrufsystem aktiviert und die Türen entriegelt, um Ersthelfern den Zugang zum Innenraum zu erleichtern. Dann also lieber nichts Großformatiges lesen. Gegen Surfen im Smartphone hat der Drive-Pilot ja nichts einzuwenden. Und außerdem geht es ja mit Tempo 58 ohnehin gerade relaxed voran.

Die Technik übrigens kann noch deutlich mehr, ist sich Schäfer sicher. Im EQS ist etwa auch erstmals Mercedes selbsttätiger Überhol-Assistent eingebaut. Der scannt ohne jedes Zutun des Menschen die Verkehrssituation; bei Bedarf blinkt und überholt der Wagen dann langsamere Verkehrsteilnehmer – überraschend, wie schnell sich der Mensch daran gewöhnt. Allerdings arbeitet der Auto-Überholer nie zusammen mit dem Drive-Piloten. „Wir wollen den Kunden nie im Unklaren lassen, welches Level er gerade aktiviert hat“, erklärt Schäfer den Hintergrund. Und der Überhol-Assi ist genau wie Abstandshalte-Tempomat oder Spurhalter eben Level 2. Gleichzeitig funktionieren diese Systeme darum nach Mercedes-Logik nicht. Stoppt der Drive-Pilot, schalten sich zudem auch Spurhalter und Abstandsregler aus. Pädagogisch wertvoll, aber gewöhnungsbedürftig. Mit einem Tastendruck laufen dann diese Level-2-Assistenten wieder an.

Die zurückhaltende Selbstbeschränkung der Assistenz-Pioniere hat auch etwas mit der angestrebten Überzeugungsarbeit zu tun. Niemand möchte schließlich der erste Hersteller sein, der beim autonomen Fahren in einen Unfall verwickelt ist. Im ersten Jahr auf deutschen Straßen habe es auch noch keinen gegeben, ist der Macher stolz. Dass es Crashs aber auch trotz immer höherer Autonomiegraden geben wird, ist unvermeidlich. Im Straßenverkehr hat schließlich nicht jeder Teilnehmer Dutzende Techno-Assistenten, Rechner und Ersatz-Systeme für Bordnetz, Bremsen und Lenkung, falls die standardmäßigen ausfallen. Dass Drive-Pilot dann die Schuld trägt, ist indes eher unwahrscheinlich. Risikobereitschaft hat der Rechner schließlich nicht einprogrammiert. Seine digitale DNA hat kalifornische Gelassenheit. (SP-X/MN)

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